Zusammenfassung: Wer kennt sie nicht, die Aufforderung, in Stresssituationen «Prioritäten zu setzen»? Doch nicht immer haben wir in entsprechenden Phasen die Ressourcen, um zu priorisieren. Die Psychologin Corina Sager rät daher, im Alltag zu üben, das eigene Stressniveau richtig einzuschätzen daraus eine passende Strategie abzuleiten. Während bei akutem Stress der Fokus auf einer Reduktion der aktuellen Anspannung liegt, sind im Fall von chronischem Stress längerfristige Veränderungen gefragt. Um diese zu erzielen, müssen wir jedoch zunächst auf positive Emotionen setzen. Denn anders als Stress, der unseren Fokus verengt, weiten positive Emotionen unseren Blickwinkel und erlauben uns, neue Handlungsmöglichkeiten zu erkennen.
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Druck bei der Arbeit, Streit mit der Partnerin, Schlafmangel, die Wohnung ein einziges Chaos und über allem schwebend der Gedanke: «Ich kann nicht mehr». Wer in solchen Situationen nach Massnahmen gegen Stress sucht, erhält oft Ratschläge wie Überblick verschaffen, Aufgaben priorisieren, Stressoren identifizieren, Ernährung umstellen und das vor langer Zeit erworbene Fitness-Abo endlich nutzen. Alles gute Tipps, in einer akuten Stressphase aber vor allem eines: total überfordernd.

Stress für sich nutzen
Anspannung ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil, wir brauchen sie, um Motivation aufzubringen, Dinge anzupacken und Herausforderungen zu meistern. Bei zu tiefer Spannung fühlen wir uns lustlos und können uns zu nichts aufraffen. Idealerweise befinden wir uns im Alltag daher in einem mittleren Anspannungsbereich irgendwo zwischen 30% und 70%. In diesem Bereich sind wir präsent und leistungsfähig.
Erkennen: Mein Fokus ist verengt
Steigt die Anspannung durch akute Belastungen auf über 70%, schüttet unser Körper grosse Mengen an Stresshormonen aus. Auch psychisch geschieht etwas, das in Krisensituationen überlebenswichtig ist: Unser Fokus verengt sich und richtet sich ganz auf das aktuelle Problem. Standen wir früher einem Säbelzahntiger gegenüber, sicherten diese Mechanismen unser Überleben. Heute stellen wir in akuten Stresszuständen jedoch komplexe kognitive Anforderungen an uns selbst: Wir versuchen, die Situation zu analysieren, Optionen abzuwägen und Prioritäten zu setzen. Meistens scheitern wir dabei, weil uns der Überblick und klares Denken längst abhandengekommen sind.
Die drohende Abwärtsspirale meiden
So wertvoll und wichtig dieses «Notfallprogramm» des Körpers für kurzfristige Belastungen und Krisensituationen jeglicher Art ist, so hinderlich ist es, wenn wir dauerhaft darin feststecken. Im schlimmsten Fall entwickelt sich daraus eine Abwärtsspirale. Denn je höher die Anspannung, desto eingeschränkter die notwendigen Fähigkeiten zur Stressreduktion (Prioritätensetzung lässt grüssen). Wer in dieser Spirale gefangen ist, verbringt sein Leben zunehmend reagierend statt aktiv gestaltend, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Erschöpfung und Ohnmacht führt.
Die richtige Strategie wählen
Diesem Teufelskreis sind wir zum Glück nicht ausgeliefert. Durchs Wählen der richtigen Strategie können wir aus der Negativspirale ausbrechen und unser Gleichgewicht zurückerlangen. Die zentrale Frage lautet dabei: Brauche ich eine Sofort-Massnahme, um wieder klar denken zu können, oder habe ich in diesem Moment genügend Ressourcen, um eine langfristige Veränderung in Angriff zu nehmen? Das Wahrnehmen und Einschätzen des eigenen Stresslevels ist somit eine wichtige Kompetenz im Umgang mit Belastung und Voraussetzung für die Wahl einer wirksamen Strategie.

Erkenne Anzeichen für:
- Gedankenkreisen und Entscheidungsschwierigkeiten
- Gefühle der Wut oder Hilflosigkeit
- Erhöhter Puls, schnellere Atmung, Schwitzen
- Unruhe und Konzentrationsschwierigkeiten
- Gefühle der Überforderung
- Müdigkeit, Schlafstörungen
Tipps bei akutem Stress
Bei akutem Stress lautet das Motto: Anspannung reduzieren, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Konkret heisst das, aufhören zu grübeln und sich (falls möglich) vom Druck befreien, Entscheidungen treffen zu müssen. Oft muss dies gegen einigen inneren Widerstand erfolgen, da Gedanken auftauchen wie: «Ich kann mich doch nicht entspannen, solange ich die Sache nicht geklärt oder erledigt habe». Wenn man sich diesem Impuls jedoch hingibt, grübelt man meist nur und dreht sich im Kreis, statt Veränderung zu bewirken. Demgegenüber sind Massnahmen zur Senkung akuter Anspannung in diesen Momenten nicht nur eine Ablenkung von gegenwärtigen Problemen, sondern der notwendige erste Schritt zur Verbesserung der Situation.
Folgende Interventionen haben sich als wirksam erwiesen:
- Scharfes Essen (Chili, Wasabi)
- Spazieren (am besten im Wald)
- Kalt duschen
- Kleinen Kieselstein in den Schuh legen
- Musik hören
- Massage
- Sporteinheit
- Atemmeditationen oder Progressive Muskelrelaxation (PMR)
Ein Trick, um nicht wieder ins Grübeln zu verfallen, kann das Festsetzen eines Zeithorizonts sein, z.B.: «Bis Ende September mache ich mir keine Gedanken mehr darüber, ob ich meine Beziehung beenden will. Bis dahin investiere ich vor allem in meine Energie und Erholung, um meine Entscheidungsfähigkeit wieder zu erlangen. Am 1. Oktober plane ich, wie ich zu einer Entscheidung kommen möchte.»
Tipps bei chronischem Stress
Chronischer Stress erfordert nachhaltige Veränderungen. Dafür brauchen wir Energie, Zugang zu den eigenen Bedürfnissen, realistische Planung und Kreativität im Umgang mit Herausforderungen. Wie können wir dies erreichen? Genauso wie Stress unseren Fokus verengt, haben positive Emotionen die Kraft, unseren Fokus zu weiten1. Wollen wir raus aus chronischem Stress, müssen wir daher erst einmal dafür sorgen, dass wir mehr positive Emotionen erleben. Danach klappt plötzlich auch das Priorisieren.

Um loszulegen, nutze diese Reflexionsfrage:
- Welche Tätigkeiten, Menschen und Dinge lösen positive Emotionen in mir aus?
- Wie kann ich diese konkret in meinen Alltag einbauen?
Die Wahl der richtigen Strategie im Umgang mit Stress erspart nicht nur viel Frust, sondern birgt auch das Potential, das Leben aktiv zu gestalten und dadurch als Person zu wachsen. Gelingen kann dies unter Einbezug wissenschaftlicher Erkenntnisse, die auch Psychologinnen und Coaches leiten. Darunter: Erkenne die Verengung deines Fokus, brich durch gezielte Entspannung daraus aus und gönn dir positive Emotionen, um deine Herausforderungen mit Energie und Kreativität angehen zu können.
- Barbara L. Fredrickson im Buch „Positivity“

Die Autorin
Corina Sager ist Psychologin und angehende Psychotherapeutin. Zu ihren Lieblingsthemen gehören emotionale Kompetenzen, Stressmanagement und Mindful Self-Compassion.